Recht ohne Güte ist kalt
18.11.2010 – WIESBADEN
Von Roger Töpelmann
BESUCH Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider ergreift im Georg-Buch-Haus Stimme für sozial Schwächere
Das Sprechpult im Georg-Buch-Haus in Wiesbaden leuchtete in kräftigem Rot, und die Bundestagsabgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul setzte mit ihrer bekannten Haarpracht dem noch einen kaminroten Tupfer auf. Die Bundesministerin a. D. nannte den Redner des Abends, Präses Nikolaus Schneider, einen Verfechter einer gerechten und solidarischen Gesellschaft und lobte das Sozialwort der Kirchen aus dem Jahr 1997, das Verbindungen zu den Positionen der SPD herstelle. Vor allem versäumte sie es nicht, dem neu gewählten Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu dessen genau vor einer Woche erfolgten Wahl durch die EKD-Synode zu gratulieren.
Doch Nikolaus Schneider ließ sich in dem, was er dann sagte, nicht vom parteilichen Rot vereinnahmen. Er blieb streng bei seinem Vortragstitel aus dem prophetischen Buch Micha Es ist dir gesagt Mensch, was Gott bei dir sucht … Es sei Gerechtigkeit, die hier eingefordert werde, und tatsächlich brauche jeder Mensch einen Ordnungsrahmen für sein Leben, hob er an. Dass dieser Rahmen durch die Zehn Gebote bis heute gegeben sei, daran gelte es zu erinnern. Besonders daran, dass soziale Sicherheit für alle Menschen gefordert sei. Es gehe um die Unverletzlichkeit der Person, den Schutz der Familie und um persönliche Integrität. Ich bin zuerst einmal bei der Würde des Menschen, das Entscheidende, was wir vom Menschen sagen, verdeutlichte Schneider. Die Bibel betone zugleich, niemand könne sich Würde erarbeiten, und noch weniger könne sie ein Mensch für seine Person je verwirken.
Mit dem Dritten Gebot der Heiligung des Sonntags gab sich Schneider kämpferisch: Der Tag sei dazu da, dass Menschen Menschen bleiben, sagte er. Die Kirche streite um den Sonntag, weil es ohne Feiertage nur noch Arbeitstage gebe. Alle Bemühungen, weitere verkaufsoffene Sonntage zu etablieren, gingen in die falsche Richtung. Es bleibe die Aufgabe der Kirche, hier Lebenshaltungen zu stärken.
Für die Wahrung von Haltungen hatte zu Beginn schon Sozialdezernent Arno Goßmann (SPD) geworben. Er beschrieb die soziale Wirklichkeit der Stadt Wiesbaden damit, dass hier ein Viertel der Bevölkerung von Sozialleistungen leben müsse. Er lobte dabei die Rolle der Kirchen, die einen erheblichen Teil der Kindergärten stelle. Tatsächlich waren an diesem Abend unter den knapp 300 Zuhörern viele Kirchenleute auszumachen, der amtierende Dekan Gerhard Müller und der stellvertretende Dekan Dr. Sunny Panitz, die Präses der Wiesbadener Dekanatssynode, Gabriele Schmidt, Diakoniechef Gustav Förster sowie der frühere Präses der EKHN-Synode Dr. Karl Heinrich Schäfer. Alle waren sie gekommen, um den ersten Auftritt Schneiders in der Landeshauptstadt mitzuerleben, auch der katholische Ex-Stadtdekan und heutige SPD-Landtagsabgeordnete Ernst-Ewald Roth.
Präses Schneider – so sein Titel in der Evangelischen Kirche im Rheinland, die er leitet – beanspruchte eine politische Rolle der Kirche. Bei den Sozialleistungen durch Hartz IV kritisierte er, dass Kinder noch immer schlecht gestellt seien und chronisch Kranke Medikamente zu oft selbst bezahlen müssten. Recht ohne Güte ist kalt, beschrieb er das mangelnde Versorgungssystem in einer technokratischen Gesellschaft. Dem in Duisburg lange als Diakonie- und Gemeindepfarrer tätigen Kirchenmann lässt sich nicht nachsagen, dass er die soziale Wirklichkeit nicht selbst kennengelernt hat. Die Kirchen sollten für soziale Gerechtigkeit eintreten und sich aktiv an der Hilfe für sozial Schwache beteiligen. Dazu helfe uns Gott. Amen, schloss der Gastredner.
Die SPD-Parteigranden konnten mit dem Abend zufrieden sein. Die Zuhörer waren es augenscheinlich auch. Betriebsrätin Heidrun Feine hoffte nach dem Auftritt gar: Vielleicht tritt der liebe Gott eines Tages doch in die SPD ein. Dem wollte auch Heidemarie Wieczorek-Zeul nicht widersprechen.
(Quelle: Wiesbadener Tagblatt vom 18.11.2010)